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Die andere Realität

Ich kenne einen besonderen Menschen. Vor zirka einem Jahrzehnt haben sich unsere Wege das erste Mal gekreuzt. Es ist ein Glück, dass wir uns so gut kennengelernt haben. Er hat mir sein Leben geöffnet. Da konnte ich nicht anders. Da musste auch ich mein Leben ihm öffnen.

Als mir der besondere Mensch das erste Mal begegnete, erkannte ich als Erstes eine schwere Last, die unsichtbar auf seinen Schultern lag und ihn ein wenig gebeugt erscheinen ließ. Bis zum heutigen Tag scheint sich diese Last reduziert zu haben, jedenfalls wirst du ihn jetzt aufrechter erleben. Als Zweites erlebte ich in ihm eine innere Schönheit, als wir miteinander zu reden begannen. Hilfsbereitschaft und Sorge um mich waren sofort da. So fand unser Kennenlernen statt.

Der besondere Mensch hat eine Diagnose. Niemand wird seine Erkrankung erkennen. Auch du wirst an ihm vorübergehen, ohne dass dir irgendetwas auffallen würde. Die Diagnose heißt Schizophrenie. Das ist eine schwere Erkrankung. Wir alle denken sofort an die gespaltene Persönlichkeit. Auch ich habe das getan. Ich habe aber zuerst den besonderen Menschen und erst fünf Jahre danach seine Diagnose kennengelernt. Er hat keine zwei Persönlichkeiten. Er ist nicht gespalten. Er ist eine einzige einzigartige Persönlichkeit.


Was du sonst noch weißt über Schizophrenie, hast du vielleicht in irgendwelchen Medien gelesen. Überall steht dort von Schizophrenen geschrieben, die irgendwelche Gewalttaten verbrochen haben. Der besondere Mensch ist aber nicht gewalttätig. Seine Empathie, Sorgsamkeit und Einfühlungsbereitschaft sind weit stärker ausgeprägt, als bei allen anderen Menschen, denen ich begegnet bin. Auch alle anderen Schizophrenen sind nicht gewaltbereit. Das muss ich dir wiederholen! Alle Menschen, die an Schizophrenie leiden, sind nicht gewaltbereit! Überhaupt sind alle Menschen, die in irgendeiner Form an ihrer Psyche erkrankt sind, nicht gewalttätig. Ich muss das wissen. Ich bin ja selber psychisch krank. Inklusive Krankenhausaufenthalt. Ich habe noch nie einen psychisch Erkrankten erlebt, der gewalttätig gewesen wäre. Und ich bin mir ziemlich sicher, ich kenne mehr psychisch Kranke als du. Manchmal wirken wir aggressiv, weil man uns nur schwer verstehen kann, aber niemals sind wir gewalttätig! Die Gewalt kommt von woanders her. Die Gewalt kommt von der Gesellschaft und der Welt, so wie wir sie für uns gestaltet haben.

Manchmal taucht der besondere Mensch in eine andere Realität ein.

Die Realität, so wie wir sie kennen, Häuser, Straßen, Bäume, Blumen, Menschen, Begegnungen, Augen, Autos, usw. kann so manches Mal schon recht verwirrend sein. Wir geraten irgendwo hinein und finden nicht wieder heraus. Dann müssen wir um Hilfe bitten und kriegen die auch normalerweise. Das Problem ist gelöst. Wir leben weiter. Eine andere Realität ist das nicht. Eine andere Realität können wir uns alle nicht vorstellen. Geräusche werden zu Stimmen. Blicke werden zu Bedrohungen. Menschen werden zu Monstern. Manchmal hilft dem besonderen Menschen ein wenig Musik, die aus der einen in die andere Welt hinüberreicht, an der er sich festhalten kann. Das jedoch gelingt nicht immer. Meistens hilft nur die Flucht. Auf seiner Flucht setzt der besondere Mensch eine Maske auf, damit du nicht erkennst, dass er auf der Flucht vor dir ist. Das ist eine Sache seiner Ehre. Er will sein Gesicht nicht verlieren. Darum setzt er eine Maske auf. Du wirst in seinem Erscheinen und Tun niemals erkennen, dass er sich in der anderen Realität befindet. Er wird dir antworten und helfen, dabei bräuchte er in dieser Situation so dringend selber Antworten und Hilfen.

Das Ziel der Flucht des besonderen Menschen ist sein Zuhause. Dort verebbt langsam die andere Realität. Oder der besondere Mensch realisiert, dass ihm das Medikament X helfen könnte. Das Medikament X hilft dem besonderen Menschen fast immer, nur weiß er das nie, wenn er in der anderen Realität ist. Manchmal verlässt der besondere Mensch wochenlang sein Zuhause nur zum Einkaufen, weil er solche Angst vor der Flucht hat. Dann kommt die andere Realität zu ihm nach Hause.

Manchmal, wenn mir der besondere Mensch gegenüber sitzt, erkenne ich an ihm die andere Realität. Seine Augen sind dann irgendwie leerer oder seine Worte um einiges leiser.

Wolfgang Eicher über den “besonderen Menschen”


Manchmal, wenn mir der besondere Mensch gegenüber sitzt, erkenne ich an ihm die andere Realität. Seine Augen sind dann irgendwie leerer oder seine Worte um einiges leiser. Dann frage ich ihn ganz direkt, ob er Paranoia hat. Meistens antwortet er mit ein bisschen. Der besondere Mensch schämt sich selbst mir gegenüber seiner erlebten anderen Realität.

Dann sage ich dem besonderen Menschen, dass es ein Medikament gäbe, das X heißt, und wie es denn wäre, das jetzt zu sich zu nehmen, es könnte nämlich helfen. Ich mache das ganz vorsichtig. Ich möchte ihm nichts aufzwingen. Ich möchte ihn nur an die Existenz des Medikaments X erinnern. Ich weiß, dass er in seiner anderen Realität die Möglichkeiten des Medikaments X nicht sehen kann, dass er einfach vergisst, dass es diese Hilfe gibt. Auf meine Frage, wie es denn wäre, gerade jetzt das Medikament X zu nehmen, antwortet der besondere Mensch entschlossen mit Nein. Zehn Minuten später holt er das Medikament aus seiner Tasche, er hat es ständig bei sich, und nimmt es ein.

Das Medikament X hat eine Wunderwirkung. Eine halbe Stunde nach der Einnahme verschwindet die andere Realität aus den Augen des besonderen Menschen. Diese Wunderwirkung würde verschwinden, wenn er das Medikament X jeden Tag einnehmen täte. Der besondere Mensch muss sich das Medikament X gut einteilen. Manchmal muss er die andere Realität jedoch täglich erleben.


Die andere Möglichkeit, dem besonderen Menschen ein wenig zu helfen, ist ihn auf seiner Flucht nach Hause zu begleiten. Mittlerweile habe ich es geschafft, so viel Vertrauen zu ihm aufzubauen, dass dieses Vertrauen auch in seine andere Realität durchleuchtet. Dieses leise Durchschimmern, mehr ist es dann doch nicht, und es passiert auch nicht jedes Mal, kann ihn dann ein wenig in die Wege abseits führen, wo die Menschen in seiner anderen Realität weniger mit ihren Fratzen drohen.

Ich finde, man sollte vor Allem trotz Allem gerade über die dunklen Winkel des Lebens viel reden, nur so können sie vielleicht ausgeleuchtet werden.

Wolfgang Eicher über die “andere Realität” und die dunklen Winkel

Zuhause angekommen, gelingt manchmal ein Gespräch. Aber auch erst, wenn durch bekannte Musik und vertraute Atmosphäre die andere Realität in eine Ecke getrieben ist. Der besondere Mensch redet nicht gerne über die andere Realität. Er kann sie nicht beschreiben, meint er. Das finde ich traurig. Ich finde, man sollte vor Allem trotz Allem gerade über die dunklen Winkel des Lebens viel reden, nur so können sie vielleicht ausgeleuchtet werden.

Arbeiten kann der besondere Mensch nicht. Jedes zweite Gespräch würde ihn in die andere Realität triggern.

Der Wert des Lebens muss nicht gemessen werden.
Er existiert einfach so.

“Woran messen wir den Wert der menschlichen Existenz?”, fragt sich Wolfgang Eicher.

Vielleicht bist du auch einer jener Menschen, die den Wert der menschlichen Existenz an der Leistungsfähigkeit im alltäglichen Arbeitsalltag messen. Bei sich und bei anderen. Der Wert des Lebens muss aber nicht gemessen werden. Er existiert einfach so. Das ist schließlich auch dem besonderen Menschen klar geworden. Und keine Angst, der besondere Mensch findet schon Tätigkeiten, die auch für dich einen Wert darstellen!

Ich habe den besonderen Menschen in mein Herz geschlossen. Es gibt viele besondere Menschen. Sie bewegen sich unter uns. Sie fallen nicht auf. Sie belästigen dich nicht. Sie würden sich jedoch freuen, wenn du dich für sie interessieren würdest. Sie hätten Geschichten zu erzählen. Diese Geschichten sind nicht immer schön. Bisher hat ihnen niemand zugehört.

Die Geschichten der besonderen Menschen müssen in die Welt hinaus. Sie sind bunt und vielfältig. Ihre Tiefe erklärt das Wunder des Lebens genauso wie die anderen Geschichten, die vielleicht leichter zu verstehen sind.

Die anderen Realitäten der besonderen Menschen geistern durch die U-Bahnschächte und Einkaufszentren der Städte. Sie existieren wie euer alltägliches Mühsal. Die Ängste, die sie den besonderen Menschen bereiten, können wir alle nicht erfassen. Vielleicht aber gelingt es uns durch Begegnung und ehrlichem Interesse, diese Ängste erträglicher zu machen für die wirklich sehr besonderen Menschen.


Text: Wolfgang Eicher


Wolfgang Eicher

Wolfgang Eicher wurde 1975 in Oberösterreich geboren. Während seiner Ausbildung zum Landwirt fand er 1991 einen Ausweg im Schreiben. 1998 ging er nach Wien, wo er Raumplanung studierte. Ohne Abschluss landete er beim Schreiben seiner Romane. Der Verlag duotincta veröffentlichte 2016 „Die Insel“ und 2017 „freiheitsstatue“. 2023 wird „Mäandertal“ erscheinen. 1999 wurde ihm die Diagnose Bipolare Affektive Störung gestellt.

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